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… könnten wir leben, wären die ­Ideen des Forstwirts Heinrich Cotta vor 200 Jahren ernst genommen worden.

Das Städtchen Tharandt im Erzgebirge nennt sich selbstbewusst »Die Wiege der Nachhaltigkeit«. Hier befindet sich eine der ältesten forstlichen Hochschulen weltweit, in der noch heute die Wissenschaft vom Wald gelehrt wird. Dass aus ihrer ­Tradition unsere Vorstellung von »Nachhaltigkeit« kommt, ist bekannt. Kaum ­jemand weiß aber, dass in Tharandt vor fast 200 Jahren ein kleines Buch geschrieben wurde, dessen brisanter Inhalt uns heute endlich zu einer enkeltauglichen Lebensweise führen könnte. Doch die ­Geschichte beginnt viel früher:

Als im Jahr 1713 Carl von Carlowitz, seinerzeit sächsischer Oberberghauptmann, sein Grundlagenwerk »Silvicultura oeconomica« schrieb, waren die Wälder in weiten Teilen Europas übernutzt und zurückgedrängt. Bergwerke, Metallverarbeitung und die wachsenden Städte verschlangen Unmengen an Holz. Böden lagen offen, Hänge erodierten, Hochwässer trugen die wertvolle Krume davon. In jener Zeit verlangte Carlowitz eine »beständige und nachhaltende« Nutzung der Wälder, ohne die das Land sein Wesen verlieren würde. Es müssten so viele Bäume gepflanzt werden, dass immer die Menge wieder nachwüchse, die verbraucht wurde.

Wie war es zu dieser offensichtlichen Übernutzung der natürlichen Ressourcen gekommen? Seit den Anfängen der Besiedelung Europas nach der letzten Eiszeit lebten die Menschen lange in Gemeinschaften als Mitwirkende an den Kreisläufen ihres Ökosystems. Sobald jedoch die sich im Verlauf der Geschichte bildenden Herrschaftsstrukturen klare und kontrollierbare Verhältnisse erforderten, kam es zu heftigen Eingriffen in die Landschaft. Der von den Machthabern stark geförderte Ackerbau, die Aneignung der alten Nutzungsfreiheiten durch Herrschaften seit Karl dem Großen und die zur Steuerung von Gesellschaften benötigte Technisierung hinterließen immer tiefere Spuren: Die vielfältigen Lebensräume wurden zurückgedrängt. In der Neuzeit war die ökosystemnahe Nutzung durch Gemeinschaften längst der biosphärenweiten Ausbeutung durch Gesellschaften gewichen.Man lebte in Städten oder Dörfern, die das Land leersaugten, seine Ressourcen durch sich durchstrudelten und am Ende einen Brei aus Fäkalien und Unrat in die Flüsse entließen. Klaubholz und Streu zu sammeln oder Vieh in den Wald zu treiben, waren die letzten Relikte dessen, was Menschen schon immer praktiziert haben – die letzten Allmende-Rechte, die viele noch hatten. Doch auch diese Praxis war nun Teil der Ausbeutung, denn es fehlte das Entscheidende: nämlich in Beziehung mit diesen Ökosystemen zu leben, deren Kreisläufe zu schließen und sie zu verstehen.
Seit die Folgen der Landschaftsausbeutung lebensbedrohlich geworden sind, ringen wir darum, die verlorene Ökosystemkultur durch ein Biosphärenbewusstsein zu ersetzen. Da die Auswirkungen des komplexen menschlichen Handelns nicht mehr von überschaubaren Gemeinschaften intuitiv begriffen wurden, war ein intellektuelles Verständnis der Zusammenhänge der Biosphäre notwendig.

Im Zeichen dieses Strebens stand Carl von Carlowitz. In den Jahrzehnten nach Erscheinen der Silvicultura oeconomica entwickelten viele Staaten Gesetzgebungen zur Regelung der Waldnutzung. Überall wurden Försterschulen gegründet, an denen gelehrt wurde, wie sich ein Wald als Ganzes überhaupt fassen lässt – seine Entwicklung verfolgen, sie in die Zukunft projizieren und in der Gegenwart eingreifen – um Übernutzung zu vermeiden. Unter den Förstern jener Zeit machte sich der 1763 in Thüringen geborene Heinrich Cotta einen Namen. Er zeichnete sich dadurch aus, dass er nicht nur die Vermessung und Einrichtung der Wälder weiterentwickelte, sondern eine ganzheitliche Sicht auf ihre vielen wichtigen Aufgaben einnahm:
»Aber wer hat denn diese unmündige Wissenschaft berechtigt, die Wälder außer ihrer Beziehung auf die Fluren zu betrachten, und wie hat man sich denn jemals verleiten lassen können, den Werth der Wälder zu beurtheilen nach dem Ertrag eines einzelnen Products [des Holzes, Anm.], anstatt nach den Erträgnissen aller ihrer Producte, oder vielmehr nach den unmittelbaren Verhältnissen aller ihrer Beiträge zu dem ersten Unterhalte des Lebens?«
Fast scheint es, als hätte er gewusst, dass es in den Strukturen seiner Zeit nicht zu einer echten Nachhaltigkeit kommen konnte. Cotta wurde schließlich nach Sachsen berufen, um dort zu lehren und die Wälder zu ordnen. 1811 siedelte er sich mit seiner Forstlehranstalt in Tharandt an. Seine Leistungen in den Forstwissenschaften sind bis heute unumstritten; er gilt als Begründer des modernen Waldbaus.

Endlose Gärten
Was wir von Cotta bis heute kennen, ist allerdings nicht das, was er selbst als eines seiner wichtigsten Werke ansah. Im frühen 19. Jahrhundert stand die Landnutzung in Mitteleuropa an einem Scheideweg – und hätte Cotta sich durchgesetzt, hätten wir heute vielleicht keine endlosen Maisäcker und keine monotonen Fichtenforste. Vielleicht würden die Menschen schon längst in einem endlosen Garten ­leben und sich in dieser Fülle auch sozial ganz anders verhalten. Vielleicht wären Hierarchien längst Vergangenheit, und es gäbe eine weitverbreitete Allmende-Kompetenz, ein Biosphärenbewusstsein und eine tatsächlich nachhaltige Lebensweise ganz nahe an den regionalen Ökosystemen. Doch es kam bekanntlich anders.
Im Jahr 1819, zwei Jahre nach ­seinem berühmt gewordenen Standardwerk »­Anweisung zum Waldbau«, schrieb er ein Buch, das seiner Zeit weit voraus war: »Die Verbindung des Feldbaues mit dem Waldbau oder die Baumfeldwirtschaft«. In diesem Aufsatz skizzierte er auf 54 Seiten eine völlig andere Form der Landnutzung, als sie zu seiner Zeit üblich war. Zugleich ist die »Baumfeldwirtschaft« auch ein politisches Werk, denn Cotta machte keinen Hehl daraus, was er davon hielt, dass Menschen das Land nicht frei nutzen konnten, so wie sie es seit alters her getan hatten. »Und was lässt sich entzückenderes denken, fühlen, empfinden, genießen, als ein Paradies auf Erden? Warum realisieren es unsere Güterbesitzer nicht – sie, die Herren von Grund und Boden?« Er erklärte als Grundlage seiner Arbeit, dass das Land allen Menschen zum Lebensunterhalt in einem umfassenden Sinn dienen müsse, statt einen Geldertrag für wenige zu liefern. Konsequenterweise lehnte Cotta den Adelstitel ab, der ihm vom sächsischen König für seine Verdienste um die Forstwirtschaft angeboten wurde. Er befand schlichtweg, dass es solche Unterschiede zwischen den Menschen nicht geben dürfe.

Cotta stellte differenzierte Überlegungen zur Konkurrenz und Lichtökologie in Wäldern an und kam zu dem Schluss, »daß es eine gewisse Lichtstellung der Bestände giebt, wobei der Ertrag an Holz, Waldweide und wilder Mast zusammen genommen sein relatives Maximum erreicht«. Als Modell einer subsistenzgerechten Landnutzung führte er unter anderem die Haubergwirtschaft an, bei der auf einer Fläche Eichen für Bauholz angebaut werden, unter denen Hasel und andere Gehölze stehen, die regelmäßig auf den Stock gesetzt, also bis auf einen Stumpf heruntergeschnitten werden, aus dem sie wieder austreiben. Aus dieser Unterschicht wird Brennholz und Flechtmaterial gewonnen.Wo sie auf den Stock gesetzt wurde, sollte auch Getreide angebaut und auf Teilen der Fläche Tiere gehütet werden. Cotta schreibt, dass diese traditionelle Nutzung zwar mühselige Arbeit sei, man sie jedoch weiterentwickeln könne. Er plädiert für einen weiteren Abstand der Gehölze voneinander, so dass sich gut bearbeitbare Baumfelder ergeben, die eine in weiten Teilen gartenhafte Landschaft bilden.
Selbstverständlich trifft er auch einige Annahmen, die aus heutiger Sicht überholt wirken, wie die Behauptung, der Boden werde durch Pflügen fruchtbarer. Viele seiner Überlegungen werden jedoch von der derzeitigen Forschung gestützt. Besonders die Kombination von Gehölzen und Weidetieren wird heute als sehr vorteilhaft angesehen, da so produktive Systeme entstehen, die auch Humus aufbauen.

Es geht um essbare Landschaften
Wenn heute Landwirte über die Anlage von Agroforstsystemen nachdenken, geht es meistens um sogenannte Energieholzstreifen, also Anpflanzungen von Weiden- oder Pappelklonen zur Hackschnitzelproduktion, oder es sollen Wertholzbäume für den Holzmarkt angebaut werden. Dies sind Produkte des Kapitalismus und der Maschinenlandschaft – und genau das wollte Cotta eben nicht. Es ging ihm um essbare Landschaften, die einen vielfältigen Ertrag bieten, der in Geld gar nicht zu bemessen ist. Selbst den Schutz der Gewässer vor Verschmutzung und Überhitzung, ein sinnvolles Wegenetz unter Schattenbäumen zur Verbindung der Menschen oder das Bereitstellen einer ganzjährigen, vielfältigen und gesunden Ernährung hat er im Jahr 1819 schon mitgedacht. Am Ende der Baumfeldwirtschaft fasste er zunächst die Situation zu seiner Zeit zusammen:

»Welch ein Anblick bei uns, auf vielen meilenweiten Strecken Felder, Wege, Raine, Teiche und Bach-Ufer ohne Baum zu finden! Dann noch die düstern Brachfelder! Aber selbst auch die wallenden Saatfelder, was sind sie ohne Laubgewölbe? Wie ermüden sie – wie stimmen sie das Gemüth zur Monotonie, wenn nichts den flachen Anblick bricht, das Auge auf keinem fesselnden Punkte ruhen und sich auch des Schönen freuen kann?«

Dann schreibt er, dass überall Baumschulen begründet werden müssten, um möglichst schnell die Landschaft mit Obstbäumen und anderen nützlichen Gehölzen anzureichern. Unbewusst war er ein Vorreiter der Idee der Ökosystem-Mimikrys, also der Nachahmung langfristig stabiler natürlicher Systeme, um für Menschen günstige Lebensbedingungen zu schaffen. Erstaunlich ist auch, welches Gespür er für die menschlichen Qualitäten hatte, die eine gelingende Landnutzung verlangt: »Zur Oberaufsicht, Pflege und Beförderung des Ganzen ernenne die Regierung für jeden Kreis einen Plantagen-Commissair, der bei gründlicher Kenntniß das Aufmuntern besser als das Befehligen verstehe.« Man »sehe bei der Wahl vorzüglich auf einen Mann, den nicht das Amt zur Pflicht, sondern Lust und Freude zum Amte rufe. Ein gemeiner Lohn-Oekonom taugt hierzu nicht. Ein Paradies gedeiht nur durch Liebe und Freude! Es giebt Menschen mit freier Muße, voll Enthusiasmus für einen Wirkungskreis dieser Art. Solche wähle man!«

Leider gewann damals die Position einer kapitalistischen Landnutzung, wie man an den zahlreichen Diskussionen unter den Forstleuten und Ökonomen jener Zeit ablesen kann. Bis heute gibt es nur wenige Pionierinnen und Pioniere, die eine umfassend gedachte Nachhaltigkeit umsetzen wollen oder können. Ein Pro­blem bleibt weiterhin der Zwang zu wirtschaftlichem Wachstum. Oftmals stellen Geldgeber oder die Handelnden selbst den Anspruch, »ökonomisch« erfolgreich zu sein, also eine gewisse Kapitalverzinsung zu erreichen. Aber kann das überhaupt nachhaltig sein? Denn eines ist naturwissenschaftlich klar: Wer Nahrungsmittel oder andere Ressourcen von einem Stück Land abführt, verringert den Bestand an Mineralien und anderen Nährstoffen. Nachhaltige Landnutzung kann also nur mit Strukturen erfolgen, die einen echten Kreislauf zulassen. Geht es in erster Linie um den Verkauf von Lebensmitteln, ist dies bisher jedenfalls nicht möglich.

Die Umgestaltung hat begonnen
Dennoch gibt es Lichtblicke. Ich kenne Menschen, die anstreben, die Nahrungs­mittelproduktion auf mehrjährige Pflanzen zu verlegen, immer weniger Maschinenarbeit zu benötigen und die Menschen in die Prozesse des von ihnen bewohnten Ökosystems zu integrieren. Teilweise sind das große Landwirtschaften, die den Mut haben, etwas völlig neues auszuprobieren, und zum Beispiel in Brandenburg Esskastanien, verschiedene Nüsse und diverses Wildobst in Kombination mit Weidetierhaltung anbauen. Teilweise sind es Einzelne, die im Kleinen umsetzen, was Cotta schon vor 200 Jahren angedacht hat. Die essbare Landschaft, die er sich vorgestellt hatte, könnte heute auf einfache Weise entstehen, wenn bei der Gestaltung von Landnutzung den Prinzipien der Schlüssellinienkultur (»Keyline Design«) gefolgt würde. Diese Methode, die sich aus der Wasserkunst der Montaningenieure im Zusammenspiel mit moderner Geodäsie seit 1954 entwickelte, hat heute ein gewaltiges Potenzial: Hier werden Landschaften anhand der Geomorphologie so analysiert, dass erkennbar wird, wie sich Wasser in ihnen bewegt und verteilt. Auf dieser Grundlage können Bearbeitungs- und Pflanzmuster erstellt werden, die sowohl Oberflächen- als auch Bodenwasser entlang der Geländekontur so leiten, dass es besser aufgenommen, verteilt und gespeichert werden kann. Werden nach diesem Schema Gehölzkulturen angelegt, entsteht in unserem Klima eine naturnahe Nutzlandschaft, die einer halboffenen Wald-Weidelandschaft nahekommt. Sie ist gut zu bearbeiten, hält Feuchtigkeit, baut Humus auf und speichert Kohlenstoff, schützt vor Wind und Austrocknung und wäre so das Mittel der Wahl, um dem Klimawandel zu begegnen. So eine Ökosystem-Mimikry – realisiert durch Schlüssellinienkultur, adaptive Weideviehhaltung und die Prinzipien regenerativer Landwirtschaft – ermöglicht einen Weg in Cottas »unermesslichen Garten«. Darüber hinaus verlangt dieser Weg ein umfassendes Neudenken unserer Beziehungskultur, das glücklicherweise in einigen solidarischen Landwirtschaften schon anklingt. Die wichtigste Aufgabe im Angesicht der kommenden Klimakatastrophe lautet: Pflanzt Bäume, Bäume, Bäume!
Ich schätze mich glücklich, in Tharandt studiert zu haben. Wenn ich Cotta lese und an Waldbau, Geodäsie, Meteorologie, Boden­kunde, Standortlehre und meine vielen anderen forstlichen Fächer denke, wächst langsam die Gewissheit: Man muss nicht über den Fluss gehen, um Wasser zu holen. Wir haben das besondere Glück, dass die neuen Ansätze der Landnutzung, die wir zum Beispiel bei Pionieren wie Mark Shepard in den USA sehen, in Mitteleuropa in einer Tradition stehen, deren Wurzel bis zur Ökosystemkultur der Mittelsteinzeit reicht. Gleichzeitig können wir auf 200 Jahre moderner Wissenschaft aufbauen, die seit Erscheinen von Cottas Baumfeldwirtschaft ihre Bedeutung auch in den Dimensionen erschlossen hat, die allein intuitiv nicht zu begreifen sind. Wenn wir uns auf diese Tradition der ganzheitlichen Sichtweise besinnen, können wir uns ermächtigen, Ökosysteme sowohl intuitiv zu verstehen als auch gleichzeitig ein Biosphärenbewusstsein zu entwickeln.

Ich sehe meine Aufgabe darin, mit diesem Wissen an möglichst vielen Orten standortgerechte Versorgungssysteme aufzubauen, die in der heutigen Gesellschaft funktionieren und zugleich eine neue gemeinschaftliche Epoche in einem veränderten Klima ermöglichen. Es ist nicht damit getan, simple Rezepte zu verteilen. Der »unermessliche Garten« wurzelt auf vielen Standorten, die alle eine ganz eigene Tier- und Pflanzenwelt beherbergen können. Die Degradation der Landschaft ist mittlerweile so gewaltig, dass es mit ein paar Spatenstichen und dem Träumen von Selbstversorgung nicht getan ist. Auf uns wartet ein Berg von Arbeit, wenn wir die Erde so gestalten wollen, dass unsere Spezies darin gut leben kann. Ich hoffe sehr, dass sich noch viel mehr Menschen, die derzeit einen Flecken Erde, eine Landwirtschaft oder ganze Landschaften gestalten können, dazu entschließen, etwas grundlegend Anderes zu machen.

Quelle
Oya, Ausgabe 51
https://oya-online.de/article/read/3065-in_einer_waldlandschaft.html

Autor
Philipp Gerhardt
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Kategorien: Humusrevolution