Anja Humburg porträtiert den »Bodenkünstler« Uwe Wüst.

Uwe Wüst ist Weltreisender und »Bodenkünstler«, wie ihn Antonius Conte in dem eindrucksvollen Bildband »Gespräche mit einem Landwirt: Ernte gut – Alles gut« beschreibt. Ein Besuch auf dem Demeter-Hof »Krautfürnix« des 48-Jährigen zeigt, was es heißt, ­Entschleunigung zu leben: sorgfältig beobachten, einfühlsam entscheiden, kräftig zupacken und am Abend wissen, dass das Tagwerk geschafft ist. Für Uwe ist sein Hof ein Organismus, durch den er ­einen Verbund mit der Natur eingeht – ein »Naturschutzhof«.

Erstmal tut sich nichts. Dass ich früh aufstehe, wie man es von Bauernhöfen kennt, wäre nicht nötig gewesen. Ich blättere die Fränkischen Nachrichten nochmal von hinten durch. Gegen neun schlurft ein kleiner, schlanker Mann mit langem, dünnem Haar Richtung Kaffeeautomat herein. Dessen Frequenz, gemessen in Pötten mit frisch gebrühtem, mexikanischem »Kaffee der Freundschaft« steigt in den nächsten Minuten ­rapide an. Der FÖJler, die anderen Freiwilligen und die Hündin Hethar ziehen durch die Küche. Mohnzopf wird aufgetischt.

Der Mohnzopf ist aus rotem Emmer gebacken, einer alten, fast vergessenen Getreideart, die auf diesem biologisch-dynamischen Hof geerntet wurde. Die Hektik der Städte, der Fernseher und Handys schafft es nicht, bis in die Küche von Uwe Wüst vorzudringen. Sein Hof liegt in dem 350-Einwohner-Dorf Brehmen im nordöstlichen Baden-Württemberg. »Krautfürnix« nennt sich der Betrieb, für den Uwe 2006 mit dem Förderpreis »Naturschutzhöfe« ausgezeichnet wurde.
Vor zwölf Jahren fing Uwe an, experimentellen Landbau zu betreiben. Im Jahr 2003 übernahm er den Hof seiner Eltern, den er 2006 mit dem Demeter-Siegel zertifizieren ließ. Auf seinen rund 150 Hektar baut Uwe neben dem roten Emmer auch andere Getreidearten mit langer Tradition an, zum Beispiel Einkorn, schwarzen Hafer, Wunderweizen, Bienenblüte, Rauscheblatt und die Ölpflanze Leindotter. »Es gibt so viele Getreidearten wie Sterne am Himmel«, sagt Uwe. Das Besondere auf seinen Äckern ist, dass es keine feste Fruchtfolge gibt. Mischkultur wechselt mit Reinsaat, der oftmals eine Untersaat oder Zwischenfrucht beigemischt wird.

»Wenn ich mir die Felder der anderen Bauern anschaue, weiß ich oft, was sie als nächstes aussäen werden. Ich folge keinem festen Rhythmus, sondern stelle mich auf den Acker, beobachte ihn und entscheide dann, was der Boden mag und was ich anbaue«, sagt mir Uwe, als wir vor einem Acker seiner Nachbarn stehen, auf dem sich monoton die gelben Senfblüten der Herbstbegrünung gen Himmel strecken. Was auf Uwes Äckern geerntet wird, bietet seine Frau Jutta zweimal pro Woche in dem winzigen Hofladen zum Verkauf an. Außerdem beliefert Uwe kleine Bäckereien in der Region, in Norddeutschland und der Schweiz mit dem seltenen Getreide. »Die kennen noch die Backeigenschaften der alten Arten und probieren aus, was man damit machen kann. Sie lassen uns wissen, was und wieviel sie im nächsten Jahr brauchen.«
Der Nebel liegt an diesem Novembertag hartnäckig auf der hügeligen Landschaft. Er lässt den artenreichen Ackerrandstreifen wie einen prächtigen Bilderrahmen um die braunen Felder herum erscheinen. Das rote Band in Uwes Haar sticht wie ein Mahnmal an die Vielfalt der Natur hervor. Diese Saatmischung ist nirgends zu kaufen. Uwe sammelt die Komposition selbst, sät aus, verändert sie wieder, testet neue Varianten. Der hohe, breite Streifen zwischen Acker und Straße bietet selten gewordenen Lebensraum für Insekten, Wühler und Vögel. So mancher Gast auf dem Hof kommt allein des Blühstreifens wegen.

Die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens ist Uwe auf diesem Hof aufgewachsen. Damals stand der Stall voller Milchkühe. Bereits als Kind sträubte sich etwas in ihm gegen diese Intensivwirtschaft. Er erinnert sich an einen Kirchentag, den er als Dreizehn- oder Vierzehnjähriger besuchte. Die lachenden Sonnen, die er dort malte, hätten dem Wunsch nach einem anderen Umgang mit den Tieren und Pflanzen Ausdruck verliehen. Es blieb einer der seltenen Momente, die ihm Raum gaben, seinen Unmut auszudrücken.

Dialog mit dem Acker

Mein Blick schweift über die Äcker, und mir fällt auf, dass sie nicht als mächtige, nackte, dunkelbraune Flächen mit tiefen Furchen daliegen. Uwe vermeidet jede unnötige Bodenbearbeitung. Auf das Umbrechen der Erde mit schwerem Gerät verzichtet er und fährt, wenn es doch sein muss, mit fast platten Reifen über den Acker, um den Boden nicht zu verdichten. Nur der Hügelpflug kommt immer wieder zum Einsatz: Er lockert die oberste Bodenschicht auf und häuft, ähnlich wie beim Kartoffelanbau, die Erde in mal schmalen, mal breiten Reihen an, er dient als Sämaschine und zur Pflege des Ackers. Die skurrile Konstruktion hat er mit seinem spanischen Freund Julian ausgetüftelt. Uwes Bodenkunst trägt Früchte: Die wertvolle Humusschicht auf seinen Äckern wächst, von Erosion keine Spur. Die Ruhe vom Frühstückstisch spiegelt sich auch bei der Arbeit auf dem Feld wider: »Mit Hektik geht schneller was kaputt. Mir geht es darum, so wenig wie möglich zu beschädigen, egal ob Werkzeug, den Boden oder die Bäume. Deswegen beobachte ich viel. Mir wurde von verschiedenen Leuten gesagt, dass das so nicht geht, aber am Ende hat es doch funktioniert«, fühlt sich Uwe in seinem respektvollen Umgang mit der Natur bestätigt.

Dass die Erträge seiner Ernte stabil bleiben oder sogar wachsen, ist für ihn Nebensache. Er wehrt sich gegen das Profitstreben. In solchen Kategorien zu wirtschaften, berge die Gefahr, »dass es am Ende um jeden Cent geht, damit sich der Betrieb rentiert«. Teils habe der Zwang, wirtschaftlich zu wachsen, sogar auf die Biobetrie­be abgefärbt. Um dem Strudel der gegenwärtigen Machtverhältnisse zu entkommen, misst Uwe seinen Erfolg mit einem anderen Maßstab: Er findet in seinem Tun Erfüllung für sich selbst, seine Familie und die Menschen, die zu ihm auf den Hof kommen. »Für mich ist der Hof Lebensraum. Ich sehe ihn nicht als Arbeitsplatz«, erklärt er, »ich gebe die Verantwortung für das, was hier wächst, nicht aus der Hand.« Für Uwe folgt daraus, dass er keine Tiere zur Zucht oder Mast verkauft und sein Saatgut, wenn überhaupt, tauscht oder verschenkt. Er möchte »die Saat gegen Monsanto säen« und damit der »Saatzucht«, die an festen Leistungskriterien orientiert ist, etwas entgegensetzen. Statt auf der Straße zu demonstrieren, hat er seine eigenen Wege der politischen Teilnahme gefunden. Auf den Feldern befreundeter Bauern in ­Mexiko hat Uwe gesehen, wie sehr sie unter der Abhängigkeit von einem Großkonzern leiden. Zu Hause trinkt er »Kaffee der Freundschaft«, um das Band der gegenseitigen Unterstützung zu knüpfen. Von seinen Reisen in die USA und nach Afrika hat Uwe viel mitgebracht. »Es ist notwendig, andere Kulturen kennenzulernen, um die eigene verstehen zu können.« Südamerika, Indien und England stehen auf der Liste zukünftiger Reisen. Am liebsten würde er immer seine Kinder mitnehmen, doch das sei nicht so leicht möglich.

Lebendigkeit genießen

Aus dem kleinen, weißen Wohnwagen kräht der Hahn. Er teilt seine Behausung mit den Hühnern und ein paar Gänsen. Daneben stehen ein Poitou-Esel und ein Stier der Rasse English Longhorn. Weiter draußen weiden Kühe. Die Tiere sind ganzjährig im Freien, das erfordert robuste Rassen und viel Weidefläche. Sie werden nicht mit Kraftfutter auf Leistung gemästet, was Uwe so manches Mal in Konflikt mit den Verordnungen bringt. In den Richtlinien und Gesetzen sind Denkstrukturen verankert, die ein auf Leistung gepoltes Vorgehen erfordern. »Wenn die Tiere nach einer bestimmten Zeit nicht ein bestimmtes Gewicht erreicht haben, bekommt man Schwierigkeiten bei der Vermarktung über Zwischenhändler«, erfahre ich von Uwe. Also verkauft er das Fleisch seiner Tiere direkt an Konsumenten.

Dann fahren wir los. An dem weißen Citroën Berlingo hängt der Anhänger, auf dem der Ochse liegt. Wir rasen über die Landstraßen durch das Taubertal. Hier liebt Uwe die Geschwindigkeit, das merkt man. Seit langem ist er Motorradfahrer, kommt immer wieder darüber ins Schwärmen. In den Neunzigern war er als Kurier tätig, fuhr regelmäßig Fracht von Leipzig nach Lyon und zurück. Über seine Freude am Fahren gelangte er in den späten Achtzigern an einen Job als »Müslikutscher«: Für seinen Chef, einen Anthroposophen aus Tauberbischofsheim, lieferte er Naturkost an kleine Bioläden. Von diesem Menschen erfuhr er eine tiefe und ehrliche Würdigung für sein Tun. Diese Erfahrung zählt Uwe zu seinen Wandlungsmomenten, die ihn letztlich dorthin gebracht haben, wo er heute steht. In seiner landwirtschaftlichen Ausbildung, die er eher aus Pflichtgefühl heraus abgeschlossen hatte, ging es vor allem darum, »die Natur in den Griff zu kriegen. Die Individualität der Tiere und Pflanzen hatte keine Bedeutung mehr«, erinnert er sich. »Den Wert eines Gutes kann ich nicht durch einen Preis ausdrücken. Es ist seine Lebendigkeit, in der die Wertschätzung zum Ausdruck kommt.« Es fällt mir nicht schwer, hinter dem geschäftigen Treiben seiner Jungs, dem humorvollen Umgang miteinander, dem intensiven Geschmack der Einkornbrötchen und der starken Verbindung zu den Tieren genau diese Lebendigkeit zu erkennen. Letztere äußert sich während der Fahrt in Bedrückung und Traurigkeit. Wir sind auf dem Weg zum Schlachthof. Der liegt in der 40 Kilometer entfernten Stadt Widdern.

Uwe kennt Ralf, den jungen Schlachter, gut. Man muss pünktlich sein, dann gibt es kein langes Warten wie bei anderen Schlachthöfen, wo er schlechte Erfahrungen gemacht hat. Statt den Ochsen gegen seinen Willen in den gekachelten Raum zu zerren, kommt das Bolzenschussgerät zum Einsatz, als er noch ruhig auf dem Anhänger liegt. Nach nicht mal einem Augenblick ist es vorbei. Uwe wirkt gefasst, aber man merkt ihm den Abschied an. Ralf geht nüchtern vor, aber nicht kaltherzig. Wir fahren mit leerem Anhänger zurück. Ein paar Stunden später erzählt Uwe, dass er sich nicht vorstellen könne, ein Altersheim auf der Weide herumstehen zu haben. Die Tiere sollen sich nicht quälen, sondern ein gutes Leben haben. Ich habe keine Zweifel daran, dass der Ochse ein gutes Leben hatte. Diejenigen, die später im Hof­laden einkaufen werden, wissen das.
Bevor Uwe Bauer wurde, baute er Spielplätze und führte schwierige Baumfällarbeiten durch. Er ist Bastler, davon zeugt die gut ausgestattete Werkstatt, in der er oft bis in die Nacht tüftelt. Der Hof strahlt einen gesunden Umgang mit Technik aus, weder rückwärtsgewandt noch hochtechnisiert, wie sich an zahlreichen Vorgängermodellen seines Hügelpflugs zeigt, die mit den Schrottkunstobjekten am Wegrand so etwas wie Land-Art geworden sind. Lediglich der moderne Mähdrescher fällt aus dem Bild, doch er erleichtert die Arbeit bei der Ernte ungemein und ist auch von diesem Hof nicht wegzudenken. Er steht in der dunklen Scheune. Aus den Lautsprechern ertönt Rockmusik in Festival-Lautstärke, als Uwe die Scheinwerfer anmacht.

Der Hof ist in permanenter Veränderung. Bei dem zu bleiben, was vielleicht vor fünf oder sechs Jahren war, kann Uwe sich nicht vorstellen. Wollten andere Bauern ihre Flächen abgeben, könne er sich vorstellen, Land dazuzupachten, denn »jeder Hektar, den ich bewirtschafte, ist ein Hektar mehr Naturschutz«.

Am Ende des Tages kommt Dirk Appel, der »Präparator«. Zwei- bis dreimal im Jahr werden die für den Demeter-Landbau typischen Präparate zu einer bestimmten Zeit aufs Feld gefahren. Dieses Mal ist der Hornmist an der Reihe. Der Dung einer tragenden Kuh wird über das Winterhalbjahr vergraben und anschließend in Torf gelagert. Dirk bröselt das ausgegrabene Präparat langsam in zwei große Bottiche mit warmem Wasser. Nach einer Stunde geselligen Umrührens, das »Dynamisieren« des Wassers, wird es in einen Tank gefüllt und mit der Spritze am Traktor auf die Felder ausgebracht. Das anthroposophische Ritual hat etwas Meditatives an sich. Für Uwe nimmt die Präparatearbeit in erster Linie Einfluss auf die Menschen auf seinem Hof: »Sie unterhalten sich dann über den Boden, machen sich bewusst, wie sie mit ihm umgehen. Sie bauen eine Verbindung zwischen sich und dem Boden auf, der der Ursprung für alles andere ist.«
Die Begegnungen mit Uwe zeigen mir, was es heißt, im Zeitwohlstand angekommen zu sein. Was sein Leben so reich macht, ist, dass er die Kunst des Tempowechsels beherrscht. Mit der Entdeckung der Langsamkeit allein ist es also nicht getan.

Quelle
Oya – anders denken. anders leben, Ausgabe 12
http://www.oya-online.de/article/read/592-angekommen_im_zeitwohlstand.html

Autor
Anja Humburg
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